Christine Li – Abalone und die Schlangengöttin
– Buchbesprechung –
Christine Li, Abalone und die Schlangengöttin
Die Legende von Abalone aus Nanhai – Band I
China im Jahr 326. Die einst mächtige Magierin Abalone lebt nicht mehr in Nanhai, sondern mehr als 1000 km weit nordöstlich in Jiankang (heute Nanjing in der Provinz Jiangsu). Offensichtlich ist sie verheiratet mit einem Mann, dem sie nichts bedeutet. Eingesperrt in ihren Frauengemächern hinter hohen Mauern sehnt sie sich einsam nach seiner Liebe und möchte diese mit Magie zurückgewinnen.
Die Leserin wundert sich, was aus der starken jungen Frau in „Abalone und das Tigergesicht“ geworden ist.
Was ist passiert? – Das Leben ist passiert! Wir werden es nach und nach erfahren …
Wie schon im Prequel der auf fünf Teile angelegten Abalone Saga um eine Schamanin und Magierin im alten China führt die Autorin Christine Li uns auf die Reise – die Reise der Schamanin Abalone zu sich selbst und gleichzeitig unsere persönliche Reise in das eigene Innere.
Die Geschichte der Abalone wird zur Heldinnenreise auf mehreren Ebenen. Ihre atmosphärisch dichten Abenteuer sind der spannend zu lesende Vordergrund. Tief dahinter, darunter und drumherum webt die Autorin, selbst Ärztin mit langjähriger Chinaerfahrung, mit magischer Gelassenheit all das, was wirklich wichtig ist im Leben einer Frau: Konventionelle Grenzen zu sprengen und die zu werden und zu sein, die eine wirklich ist. Die Prüfungen sind nicht leicht.
Für diese – lebenslange – Reise braucht jede Frau Mut und Ausdauer. Sie muss sich all ihren Gefühlen stellen, darf auch Angst und Wut nicht ausweichen (die in unserer Gesellschaft so oft mit Pillen oder Drogen gedeckelt werden, weil sie den HERRschenden unbequem sind). Jeder Schritt ist wichtig, auch wenn er Überwindung kostet.
Aber es gilt: Der Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.
Die Füße von Abalone sind nicht traditionell gebunden und verkrüppelt. Ein Segen. So kann sie mit beiden Beinen fest im Leben stehen, auch wenn sie auf ihren „Muji“ (Holzsandalen aus einem Brett mit einem Band zwischen den Zehen, darunter zwei Querbalken vorne und hinten, ähnlich den japanischen „Geta“) manchmal das Gleichgewicht verliert.
Wir erfahren also nicht nur Menschliches, sondern auch viel über den Alltag einer längst vergangenen Zeit.
Christine Li hat dafür alte chinesische Originalquellen aufgespürt und studiert, die bis heute nicht übersetzt wurden.
Wenn wir wollen, können wir also einfach Abalones Geschichte genießen. Es ist eines von den seltenen Büchern, die ich von Anfang bis Ende ohne Pause lesen wollte – ohne zu merken, dass mein Magen hungrig knurrt oder dass es draußen schon hell wird.
So sehr lebt und liebt Abalone, dass ich die letzten Seiten ganz ganz langsam verschlang, weil ich nicht wollte, dass es zu Ende geht und Abalone mich verlässt. Danach war ich sehr einsam.
Christine Lis Sprache ist voll von atemraubender Schönheit und sprachgewaltiger Nuancen. Sie kann Bilder! Worte so treffend wie scheinbar mühelos hingetuschte Pinselstriche der Meisterin lassen nur erahnen, welch profundes Wissen, welche Intention und Magie, welch Ringen um das rechte Wort hinter dieser Arbeit stecken. Zart, klar, schillernd und manchmal hart. Sie versteht es, verschiedene Sinneseindrücke zu einem dichten synästhetischen Teppich zu verweben.
Ein Lese- und Erlebens-Genuss, der uns mittendrin sein lässt und so tief hineinzieht, dass – wenn wir uns darauf einlassen wollen – die eigene Seele berührt und in Bewegung gesetzt wird. Das ist magisch, in der Tat – und es wirkt. Die Autorin verspricht da nicht zu viel.
Es ist, als ob Abalones einst magische Kräfte vom (Ehe-)Frauenalltag verschüttet wurden, sie scheint von nichts mehr zu wissen – so geht es vielen von uns, nicht bloß im alten China. Trotzdem WEISS Abalone und WISSEN auch wir im Verborgenen um unsere eine einzigartige „Superpower“. Jede Frau hat eine. Meistens ist es etwas, das wir gar nicht bemerken, weil es uns so selbstverständlich und mühelos ist, sie anzuwenden. Es ist, als hätten wir einen blinden Fleck im Kern unserer Kompetenzen: Es staunen nur die anderen, wie wir das Wunder mal wieder vollbracht haben – uns selbst scheint es nicht einmal der Rede wert zu sein.
Es ist Zeit, uns dieser Kraft und Macht (das englisch Wort ‚power‘ hat genau diese Doppelbedeutung!) bewusst zu werden und sie gezielt einzusetzen zu unserem Wohl und dem von anderen. Abalone kann uns dabei helfen.
Christine Li, Abalone und die Schlangengöttin, Mai 2020
eBook 9,99 € – EAN 9783944680309
Paperback 482 Seiten 19,99 € – ISBN-13 9783752898576
Bereits im vergangenen Jahr habe ich das Prequel „Abalone und das Tigergesicht“ vorgestellt.
Das eBook für diese Besprechung von „Abalone und die Schlangengöttin“ hat Chistine Li mir kostenlos zur Verfügung gestellt.
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Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Neuveröffentlichung von https://bfbm.jimdofree.com/2020/04/23/lesefreude-ii-christine-li-abalone-und-die-schlangeng%C3%B6ttin/