Kleine Fluchten
– ein mittlerer Wutausbruch –
„Kleine Fluchten“ – ach wenn sie doch möglich wären!
Seit mehreren Jahren lebe ich nun schon „hier oben an der Ostsee“ oder auch „da, wo andere Urlaub machen“. Das heißt ja nichts anderes, als dass ich anderen beim Urlaub machen zusehe, ohne selbst welchen zu haben.
Hier an der mecklenburgischen Ostseeküste rechts und links von Rostock sind es hauptsächlich Deutsche, die Urlaub machen.
Leider. Wie die Deutschen im Urlaub so sind, weiß man schon aus Reisen in andere Länder. Mallorca zum Beispiel. Versoffen. Laut. Arrogant. Oder Türkei. Fett. Ungebildet. Spießig. Pattaya in Thailand. Notgeile Herrenmenschen, die weder Benimm noch Anstand kennen. Wo auch immer mehr als zwei deutsche Touristen im Ausland gleichzeitig auftauchen, macht man besser einen weitläufig großen Bogen. Mit denen will eine auf gar keinen Fall in einen Topf geworfen werden.
Billig muss es für die Deutschen sein. Alles darf nur einen Euro kosten – wenn überhaupt. Wenn Ticket und/oder Unterkunft nicht billig waren, wird das gnadenlos ausgelassen an allem anderen. Da wird der Service ausgepresst wo es nur eben geht. Da werden Buffets leergeräumt, Lebensmittel in Hamsterbacken und Taschen gestopft, als ob zwei Meter weiter in fünf Minuten todsicher eine weltweite never ending Hungersnot ausbrechen werde.
Wenn der deutsche Tourist ein Ticket bezahlt und ein Zimmer gebucht hat, dann denkt er, es gehört ihm ALLES. Der Strand sowieso, der wird vollgemüllt. Die Wege dorthin oder die unter Naturschutz stehenden Dünen? Ach was, da kann man ruhig mal hinscheißen! Die Radwege? Darf man zuparken! Die romantischen, stillen Fußwege durch den Küstenwald? Mit E-Bikes und Segways drüber rasen! Einheimische haben hier nix mehr zu suchen, langsam schlendernde Genießerinnen schon gleich gar nicht – jetzt kommen die Touristen! Wir haben bezahlt! Platz da und weg mit dir!
Die ganze Küste samt Personal gehört dem „Gast“. Das Personal kann von seinen Löhnen nicht leben, weil die Touristen es gerne billig haben. Das Personal muss im Sommer, wenn es rund um die Uhr schuftet und das selten schöne Wetter aus Zeitmangel sowieso nicht genießen kann, trotzdem zum Betteln ins HartzIV-Amt gehen, weil der Hotelbesitzer oder der Busunternehmer es sich nicht leisten kann oder will, anständigen Lohn zu bezahlen, von dem das Personal leben könnte.
Im Winter, wenn die Witterung monatelang nebelgrau und schnatterkalt ist, wenn die Touristen an wärmeren Stränden oder im Skigebiet oder in der heimischen Villa vor dem Kaminofen herumlungern, ist man hier sowieso arbeitslos. Hire & fire für die Saison, das geht fast allen so. Wenn man Glück hatte, durfte man im Sommer so dermaßen viel arbeiten, dass man auch im Winter angestellt bleibt, zumindest als Minijobber, und die längst geleisteten Überstunden abbummeln darf. Da hat man dem Arbeitgeber einen zinslosen Zeitkredit gewährt. Den Rest zahlt das Jobcenter – inklusive kostenloser Gängelung und Demütigung.
Dann kommt die lange kalte Dunkelheit des Nordöstlichen Winters, dann holt einen der Vitamin-D-Mangel-Blues.
Und nein! An der See ist es nicht bei jedem Wetter schön. An der See ist es nur dann bei jedem Wetter schön, wenn man höchstens drei Tage hier ist, wenn einem in dieser Zeit alles gehört und wenn man danach wieder nach Hause darf.
Dann muss man diese drei Tage gezwungenermaßen schön finden bei jedem Wetter, weil sonst waren die drei teuren Tage ja eine gigantische Fehlinvestition, und das möchte man sich als Tourist, der hier seine sauer verdiente Qualitätszeit bei drei Grad Nieselregenrheumawetter im für authentisch gehaltenen Ölzeug verbringt, lieber nicht eingestehen. Für drei Tage ist das auch durchaus romantisch. Wenn man besoffen und fett genug ist, um das auszuhalten.
„Kleine Fluchten“ – so nenne ich das, wenn ich mal für kurze Zeit Tourist spiele am eigenen Wohnort. Wenn ich mich mal an einem halben freien Tag ein paar Gedankensprünge lang mit einem dünnen, überteuerten Cappuccino aus der Hand der – ebenfalls schlecht bezahlten – mürrischen Kiosk-Verkäuferin auf die Selbstbedienungs-Seeterrasse vom Nobelhotel-Restaurant setze.
An einem Dienstagvormittag im Ferienmonat August sitze ich zwischen lauten, Bier saufenden deutschen Touristen, die allesamt mit hängenden Mundwinkeln und ebenso hängenden Bäuchen mir meine gigantische Aussicht madig machen wollen. Meine Gedanken sind alles andere als freundlich. In diesem Jahr ist es sogar noch voller als im vergangenen, und wann eigentlich sind all diese Menschenmassen so massig geworden?! Dann möchte ich sie am liebsten nach Hause schicken. Alle! Will meine Ruhe haben und statt nölig maulender Fettklopsspießer doch lieber nur das Meer rauschen hören.
Es gelingt mir nicht. Denn ich lebe da, wo ANDERE das machen, was sie Urlaub nennen.