van Gogh Blues
… oder: die Angst der Kreativen, bedeutungslos zu sein.
Eine Buchbesprechung.
Eric Maisel, The Van Gogh Blues – The creative Person’s Path through Depression
Wer kreativ ist, neigt zu depressiven Krisen. Sagt das Klischee. Je genialer, desto suizidal. Zum Beispiel Vincent van Gogh. Großartiger Künstler, aber versoffen und depressiv. Erst Ohr ab, dann Selbstmord.
Ich kenne das gut. Dieses entsetzliche Gefühl „Das hat doch alles keinen Sinn, am liebsten wäre ich tot!“ begleitet mich seit meiner Schulzeit. Phasenweise. Mal mehr, mal weniger. Ich bin nicht so mutig wie van Gogh. Alle Ohren sind noch dran.
Das Klischee hat einen wahren Kern. Der amerikanische Psychotherapeut Eric Maisel spürt dem nach in seinem Buch „The Van Gogh Blues“ und versucht, kreativen Menschen Hilfestellung zu geben auf ihrem Pfad durch die Depression.
In seiner Arbeit und selbst kreativ tätig als Autor zahlreicher Bücher hat Maisel beobachtet, dass eine Depression bei kreativen, bei schöpferischen Menschen eine andere Qualität hat. Mit Psychopharmaka sei ihr selten beizukommen, denn sie entstehe nicht (nur) aus einer Dysfunktion im neuronalen Stoffwechsel.
Dem eigenen Leben und Wirken selbst einen Sinn geben
Die Ursache der kreativen Depression sei vielmehr ein ständiges Gefühl ‚kosmischer Bedeutungslosigkeit‘: kreative Menschen zweifeln, sind auf der Suche nach dem Sinn. Dem Sinn des Lebens, dem Sinn des Universums und dem Sinn vom ganzen Rest.
Diese Sinnsuche ist einerseits Motor der eigenen Kreativität und damit von wesentlicher Bedeutung für die eigene Schaffenskraft – andererseits aber auch mögliche Ursache für eine ganze Reihe von Ängsten, die im schöpferischen Prozess durchlitten werden, ihn begleiten, behindern oder gar verhindern können.
Ganz egal, wie ein Mensch seine Kreativität zum Ausdruck bringt: ob ich male, tanze, schreibe, Theater spiele oder Regie führe, Musik komponiere oder singe oder spiele, mich bildhauerisch betätige – die größte und schwierigste Aufgabe ist es laut Maisel, nicht nur meinen Werken, sondern auch mir selbst und meinem ganzen Leben, Tag für Tag, Bedeutung zu geben, immer wieder aufs Neue Sinn zu stiften.
Für mich trifft es das auf den Punkt:
Selbstzweifel und die Angst, nicht gut genug zu sein, völlig daneben zu liegen machen mir immer wieder das Leben schwer. Die Aufgabe, nicht nur ansprechende Texte zu produzieren, sondern sie auch gleichzeitig selbst für bedeutungsvoll zu halten, MIR Bedeutsamkeit zuzugestehen, meinem Leben selbst einen Sinn zu geben auch unabhängig vom Urteil anderer – ist schwierig, erledigt sich nicht von selbst und erst recht nicht von heute auf morgen.
In fünfzehn Kapiteln, die wie Schritte nacheinander einen gangbaren Weg aufzeigen, geht Maisel den durch – vermeintliche – Bedeutungslosigkeit verursachten wiederkehrenden Sinnkrisen und Depressionen kreativer Menschen auf den Grund; er zeigt an Fallbeispielen aus Gegenwart und Geschichte, wie Sinnkrisen sich als Depression sowohl im Alltag als auch im kreativen Prozess äußern, wie wir sie zum Beispiel durch Selbstabwertung selbst kultivieren und ihnen auf den Leim gehen. Ebenso zeigt Maisel auf, wie wir die Sinnkrisen-Depression überwinden und uns dafür entscheiden können, in allen Bereichen unseres Lebens bedeutsam zu sein – ebenso wie auch alltäglichen und womöglich ungeliebten Selbstverständlichkeiten einen Sinn zu geben.
Wir sind die kreativen RegisseurInnen unseres Lebens – Maisel gibt uns mit seinem Van Gogh Blues ein Skript an die Hand, mit dessen Unterstützung wir mutig, geduldig und mit viel liebevoller Selbstakzeptanz einen Pfad finden können durch unseren Dschungel der kreativen Sinnkrisen.
Nicht nach dem Sinn suchen, sondern selbst Sinn machen
Zu den Schritten auf diesem Pfad gehört vor allem die Erkenntnis, dass man den Sinn des Lebens nicht irgendwo oder irgendwie findet, wenn man nur lange genug danach sucht, sondern dass man selbst Sinn machen muss – sonst gibt es keinen. Wir können uns also in jeder Minute, in jeder Sekunde unseres Lebens neu dafür entscheiden, selbst Sinn zu machen oder etwas sinnvoll und bedeutsam sein zu lassen. Es ist unsere Wahl, unsere Chance – und gleichzeitig unsere Pflicht, wenn es dauerhaft funktionieren soll.
Auf dem Weg dahin gilt es zunächst, für sich selbst zu entscheiden, was Sinn macht: ganz konkret, damit wir ihm nicht lebenslang frustriert hinterher hechten wie einer Fata Morgana, die sich immer wieder hinter den Horizont verflüchtigt, sobald wir auch nur ansatzweise in ihre Nähe kommen. Sinn muss machbar sein!
Zudem müssen wir uns den existenziellen Realitäten stellen: solange die Kunst uns nicht ernährt, macht auch ein ungeliebter Brotjob Sinn, weil er uns in der Freizeit die sinnstiftende Kreativität ermöglicht.
Ebenso gilt es, eigenen Ängsten ins Auge zu blicken, uns nährend selbst zu unterstützen, uns mit dem eigenen Narzissmus zu konfrontieren, seelische Wunden zu heilen, auch Beziehungen Bedeutung zu geben und – last but not least – in die Gänge zu kommen, nicht nachzulassen.
Für mich persönlich einer spannendsten ist der Abschnitt, in dem es um das Ablösen von selbstgewählten „glücklichen Fesseln“ geht.
Happy Bondages – Glückliche Fesseln abstreifen
„happy bondages“ – so nennt Maisel Suchtverhalten aller Art, das uns den Schmerz gespürter oder befürchteter Bedeutungslosigkeit vergessen oder aushalten lässt.
Sechs von bisher acht in den USA geborenen (männlichen) Literaturnobelpreisträgern waren Alkoholiker. Selten hat jemand den Kreislauf der Sucht – und wie dadurch die Kreativität zerstört wird, besser beschrieben als Eric Maisel:
„Kreative werden leicht süchtig, weil eine Sucht ein zwar ineffektiver, aber verführerischer Weg ist, um mit Bedeutsamkeits- und Sinnkrisen umzugehen …
Die harte „kreative“ Arbeit verschleißt einen ebenso wie die harte Arbeit, jede Sekunde, Minute und Stunde mit Bedeutsamkeit zu füllen. Ein Drink scheint zu helfen. Viele Drinks scheinen zu helfen, werden zur zwanghaften Gewohnheit.
Die innere Leere geht nicht weg, aber es füllt die Leere, über den nächsten Drink nachzudenken. Trinken füllt die Leere. Das selbst verursachte Durcheinander, die Selbstbeschuldigungen, die Szenen, das Feilschen mit dir selbst, das ganze Drama und all das Aufräumen hinterher füllen die Leere.
Der Kampf, die Sucht zu durchbrechen, mag etwas Heldenhaftes haben – aber das Heldentum, das du in deine kreative Arbeit hättest stecken können, steckst du nun in deine Sucht. Die Sucht übernimmt den Platz der kreativen Arbeit; sie wird zum Zentrum deiner Gedanken, zum Zentrum deiner Sehnsucht – das, wovon du träumst und alpträumst. Die Sucht wird dein Sinn.“
(S. 128/129, Übertragung dieses Abschnitts ins Deutsche von mo jour)
Ich bin ein süchtiger Mensch, das stelle ich immer wieder fest. Auch wenn ich seit vielen Jahren keinen Alkohol mehr trinke, auch wenn ich das Rauchen aufgeben habe. Immer wieder entdecke ich, dass meine Suchtstrukturen sich neue Wege bahnen. Viel zu viel Süßkram futtern zum Beispiel oder stundenlanges Computerspielen. Manchmal erschrecke ich darüber. Manchmal schaue ich mir auch amüsiert zu und denke: Es ist okay, solange es mich zwar irgendwie beruhigt, aber weder körperlich noch finanziell ruiniert.
Nach einer Weile langweilt es mich dann schon selbst, und ich mache mich aufs Neue daran, mir und meiner Arbeit einen eigenen Sinn zu stiften. Es muss ja nicht gleich der Literaturnobelpreis sein.
Eric Maisel, THE VAN GOGH BLUES
New World Library, CA/USA, 2007, 272 Seiten, ISBN 978-1577316046
erhältlich als Paperback oder e-Book im Buchhandel eures Vertrauens (in englischer Sprache), kostet derzeit ungefähr 12 Euro.
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