Immer noch Masken
Neulich sagte eine Freundin „Du schreibst ja gar nicht mehr; bist online geradezu verschollen. Was ist los mit dir? Hast du nichts mehr zu sagen?“
Doch! Und ob ich etwas zu sagen habe. Es ist nur so dermaßen viel, dass ich es kaum sortiert kriege in meinem Innern, mich nicht äußern kann – und schier ersticke an all den unausgereiften Geschichten und Texten, die mir durch Kopf und Herz schwirrren.
Während ich noch auf der Suche war nach einem guten Wiedereinstieg hier in mein Blog, stolperte ich über einen Text von Jeannie Davide-Rivera. Davide-Rivera ist – wie ich – eine spät diagnostizierte Asperger Autistin, bloggt als „aspiewriter“ über ihr Leben – auch als Mutter dreier autistischer Söhne – und hat 2013 ein mittlerweile preisgekröntes Buch herausgebracht: „Twirling naked in the Streets and nobody noticed“ – übersetzt in etwa „Ich bin nackt über die Straßen gewirbelt und es ist niemandem aufgefallen“.

Buchcover: Jeannie Davide-Rivera, Twirling naked
Jeannie Davide-Rivera ging es ähnlich wie mir, auch ihre Posts waren seltener geworden. Sie hat es geschafft, das in einem Text zum Thema zu machen. Dieser Text hat mich so berührt, dass ich sie um ihr Einverständnis bat, ihn übersetzen und hier im „Büro für besondere Maßnahmen“ veröffentlichen zu dürfen:
Jeannie Davide-Rivera
Warum tragen wir immer noch Masken?
Erinnert sich jemand daran, warum ich angefangen habe zu schreiben? Weiß ich es selbst noch?
Ich begann mit dem Schreiben, um mich auf wirkliche und ehrliche Art mit Menschen zu verbinden und um diejenigen zu finden, die so sind wie ich (auch wenn ich das damals noch nicht wusste). Zuerst schrieb ich für mich. Ich schrieb darüber, was ich über mich selbst lernte in den Anfangszeiten meiner Entdeckungen und Diagnosen. Ich schrieb, als niemand zuhörte. Aber was ist passiert?
Vor kurzem habe ich darüber nachgedacht, was mit mir los ist. Warum schreibe ich weniger, warum poste ich weniger oft, am Ende manchmal monatelang gar nichts oder sogar noch seltener. Habe ich nichts (mehr) zu sagen?
Ich lasse niemanden mehr teilhaben, wenn ich mich abmühe (das hätte ich längst herausfinden sollen –); ich teile nicht mehr mit, wenn ich traurig bin oder aufgeregt oder frustriert – und klebe verzweifelt an dem alten Sprichwort „Wenn du nichts Nettes/Gutes/Positives/Starkes/Hilfreiches zusagen hast, dann sage gar nichts.“ Wenn ich also angespannt bin, wenn ich kämpfe, wenn ich überflutet bin von den Erledigungen des Alltags – dann sage ich nichts. Und es tut mir leid.
Über diesen Punkt habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht, und mir ist klar geworden, dass ich – wenn ich nichts Konstruktives, Positives, Erleuchtendes oder Erklärendes mitzuteilen habe – gar nichts mitteile. Meine Arbeit war erfolgreich, mein Buch – erfolgreich, und ich bin stolz darauf, wieviel ich geschafft habe. Jedoch kam mit diesen Leistungen auch etwas, das ich niemals erwartet hätte: Angst. Und Druck.
Angst, dass das, was ich als nächstes tue, nicht genauso erfolgreich sein wird und dass ich endgültig scheitern werde. Dass ich nicht gut genug bin in einer anderen Unternehmung. Angst, das Falsche zu tun, das Falsche zu sagen oder einen falschen Eindruck zu machen.
Druck, immer Antworten parat zu haben, immer so ‚auszusehen‘ als ob ich alles beieinander hätte, meine Leserschaft zu erfreuen und niemanden mit meinen Worten aufzuregen. Boah. Boah. Boah. Was ist aus mir geworden, und wie genau ist mir das passiert? Bin ich auf der Suche, mehr über mich zu lernen und zu verstehen und ich selbst zu SEIN am Ende da gelandet, dass ich eine andere Fassade errichtet habe? Bin ich deswegen so erschöpft? Können wir echt sein ohne Anonymität? Ich weiß es nicht.
Wie reden wir über harte Zeiten, während wir versuchen, so „auszusehen“, als ob alles in Ordnung wäre – während wir versuchen, ermutigend, engagiert und einfühlsam zu sein? Ist das nicht einfach eine andere Art von gesellschaftlichem Druck jetzt? Ein weiterer Fall, in dem wir so tun müssen als ob – anstatt einer Gelegenheit, wir selbst zu sein?
Ich kämpfe genau jetzt. Ich bin überflutet, im ‚Overload‘. Ich erlebe einen seelisch wunden Tag. Manche Gründe dafür kenne und verstehe ich, andere kriege ich nicht genau zu fassen. Aber was ich weiß, ist, dass das noch weiterer Klärung bedarf. Ich muss mutiger werden und die rohe Wahrheit schreiben: gut, schlecht oder neutral, ohne Filter, ohne Masken.
Das Gewicht der Masken ist zu schwer zu (er)tragen.
Quelle:
http://aspiewriter.com/2017/04/why-are-we-still-wearing-masks.html
Übersetzung aus dem amerik. Englisch: mo jour
Genau das ist es auch bei mir, was mich zeitweilig immer wieder verstummen lässt:
Die Angst, nicht gut genug zu sein oder mich lächerlich zu machen, wenn ich laut sage, was los ist bei mir. Die alte Botschaft aus Kinderzeiten „Sei eine andere!“ habe ich so dermaßen verinnerlicht, das sie bis heute nachwirkt.
Es geht immer wieder und immer noch darum, die zu werden und zu sein, die ich wirklich bin: Nicht mehr so tun, als ob … alles in Ordnung wäre, obwohl meine Seele wund ist.
Ich komme mir schon noch auf die Schliche!
Jeannie Davide-Rivera danke ich sehr für diesen Text und dafür, dass sie mir erlaubt hat, ihn als Sprungbrett zu nutzen, um aus meiner Funkstille wieder herauszukommen.
Ihr Buch „Twirling naked …“ kann ich uneingeschränkt empfehlen. Jeannie Davide-Rivera ist eine lebendige, warmherzige und ehrliche Autobiographie gelungen – sie hat mich staunend mitfühlen lassen, zum Lächeln und zum Weinen gebracht, bisweilen auch erleichtert und mir ganz viel Boden unter die ratlosen Füße gegeben.
PS.
Dieser Beitrag ist ein Repost von April 2017 und unverändert aktuell.
PPS.
Um Missverständnisse zu vermeiden:
Nein, ich habe KEIN Buch geschrieben.