Wellengang
Mein Leben lang schon habe ich mich nach dem Meer gesehnt, mit allen Sinnen. Ich sehne mich nach der See, nach den Geräuschen und Gerüchen von Wasser und Wellen. Nach dem Gefühl von Salzwasser auf der Haut und Sand zwischen den Zehen.
Ich weiß nicht, ob irgend jemand diese Sehnsucht in all ihrer Heftigkeit nachvollziehen kann. Sie ist so dermaßen groß, dass ich das Wort „sehnen“ in Gedanken immer mit Doppel-E schreibe und ohne H: see-nen. Ich sehne mich nicht nur, ich seene mich an die See.
Das See-seenen ist stärker als die Sehnsucht nach anderen Orten. Die See gibt mir eine innere Ruhe wie nichts sonst auf der Welt. Die Seensucht nach der See ist bisweilen sogar stärker als die Sehnsucht nach Menschen, Tieren oder anderem für mein Wohlleben Wichtigem.
Sobald ich die Wellen höre, sobald ich das Salz rieche, sobald ich an der Wasserkante stehe – dann geht es mir gut. Oder zumindest besser.
Mein Puls verlangsamt, der Atem beruhigt sich und wird tiefer, ich kriege wieder Luft, meine Augen ruhen entspannt im fernen Horizont, und sogar der Tinnitus scheint zu verstummen im Rollen der Wassermassen.
Eine Reise, die mich nicht auch ans Meer führt, fühlt sich nicht wie Urlaub an, entspannt mich nicht wirklich. Diese große Wirkung kann ich weder rational begründen noch logisch erklären. Ich spüre sie einfach – auch wenn es dafür kein Messgerät gibt.
Die Seensucht nach dem Meer ist in mir. Immer. Und die Wirkung setzt ein, sobald ich an der Wasserkante stehe. Immer.
Vielleicht liegt es daran, dass mein Horoskop den Krebs im Aszendenten hat. Das vorsichtige Wassertier, das Konfrontationen scheut und sich den Dingen eher schüchtern von der Seite nähert statt frontal darauf zu zu steuern. Und sich ins Wasser flüchtet, wenn es gefährlich wird.
Vielleicht liegt es auch an etwas ganz anderem. Was im Grunde aber egal ist.
Wichtig ist für mich vor allem, dass ich weiß, was mir gut tut.
Besonders gut tut mir ein ausgedehnter Wellengang.
So nenne ich meine Spaziergänge und Wanderungen am Strand, immer an der Wasserkante entlang. Am liebsten mit nackten Füßen, wenn die Temperaturen von Luft und Wasser es zulassen. Dann plitsche ich mit den Fußsohlen in die Wellen, die sanft am Strandsand landen, bevor sie sich wieder zurückziehen oder versickern.
Dieses Wassserkantenplitschen kann meine Konzentration vollständig in Anspruch nehmen. Wasser, Wind, Horizont, Sand, Steine, Buhnen, Boote, Segelschiffe, Seetang, Möwen, Muscheln, meine Füße halb im Wasser, Schritt für Schritt … Nichts kann mich dann ablenken, meine Gedanken sind fokussiert, der Geist wird ruhig.
Es ist eine Art Meditation. Es ist MEINE Art der Meditation, die mir hilft wie keine andere, in meine Mitte zu finden, selbst wenn die Welt um mich herum in Stücke fällt.
Ausatmen. Einatmen. Sein. Jetzt.
Es wird Zeit.
(Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht im Büro für besondere Maßnahmen am 19.10.2014 auf mojour.blogspot.com)