calm yourself
– Jahreszitat 2022 –
Treue LeserInnen im Büro für besondere Maßnahmen wissen, dass ich jedes Jahr unter einen persönlichen Leitsatz stelle, der meinem Herz ein gedeihlicher Impuls ist und gleichzeitig meiner oft bodenlosen Seele Halt gibt.
Und dieses Jahr? Da war noch nix!
Zumindest nicht hier, nicht öffentlich veröffentlicht.
Innerlich aber waren (und sind) Aufruhr und Veränderung ohne Ende. Dazu diverse Dramen im Außen. Ich hätte so vieles zu erzählen, so vieles euch mitzuteilen, mit euch zu teilen … dass ich schier ersticke an all dem Ungesagten, Ungeschriebenen, Unverarbeiteten.
Natürlich nicht erst seit diesem Jahr.
Aber in diesem Jahr erscheint es besonders viele und vielerlei stürmische Zeiten zu geben, die nicht nur mich, sondern auch die Welt aus der hart erkämpften Mitte zerren, den Boden unter den Füßen wegziehen und den letzten Halt gebenden Ast vom Baum reißen.
Also konnte ich mich nicht entschieden für mein Jahreszitat. Nichts passte. Alles erschien banal, bloße Durchhalteparole, schon mal dagewesen, längst vom Winde verweht …
Die Birke vorm Haus biegt sich im Sturm nach links, scheint fast abzubrechen – und bevor ich mich einigermaßen darauf einstellen kann, weht der Orkan aus der anderen Richtung und meine Birke liegt rechts auf dem Boden. Sie schwankt im wilden Hin und Her – bis ich fast seekrank werde allein vom Zuschauen.
So wird das nix. Sie tut mir leid, meine Birke – aber es liegt nicht in meiner Macht, die Windrichtung zu ändern oder die Stärke der Böen auf ein erträglich gleichbleibendes Maß zu regulieren.
Ich tu mir auch leid. Aber was tun?! Es muss mal wieder ein neuer Anfang her. Ein Innehalten, ein Reset.
Einatmen, ausatmen, loslassen. Immer wieder.
Ach, das sagt sich so einfach!
Und überhaupt: das Jahr 2022 ist doch bereits zur Hälfte geschafft, wieso jetzt noch ein Jahreszitat?!
Weil ich hier die Bestimmerin bin, und weil ich das so will. Weil es der Versuch ist, die Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen, zu behalten. Und weil ich weiß, dass – in diesem Jahr ganz besonders – die Kontrolle über mein Leben genau darin besteht, einzusehen, dass ich das Leben nicht kontrollieren kann.
Tun durch nichts tun, sehr zen-buddhistisch. Gleichzeitig sehr schwierig in unserer Zeit, in der (Re-)Aktionismus von vielen zur obersten Maxime erklärt wird. Ich habe getan, ich habe auch nicht getan. Bis mir neulich aus dem Geschichte meiner Notizen und Gedankensprünge ein Zitat buddhistischen Ursprungs vor die Füße wehte:
stop
trying to calm the storm.
calm yourself.
the storm will pass.Versuche nicht, den Sturm zu beruhigen.
Komm selbst zur Ruhe.
Der Sturm geht vorbei.
Ja, das klingt einfach – und ist doch so verflixt schwierig!
Aber das ist es, mein Jahreszitat 2022.
Es bedeutet nichts anderes, als genau zu wissen, wo und wie ich meine Energien einsetzen muss, um locker durchzukommen und am Ende möglichst gut da zu stehen.
Etwas anderes bleibt einer klugen Frau doch gar nicht übrig!
Es bedeutet auch, ganz realistisch zu sein und klar zu sehen, an welcher Stelle der Einsatz meiner Energien vergeblich ist. Es gibt Dinge, die kann ich nicht ändern – egal wie sehr ich mich anstrenge.
Es bedeutet auch, meine eigenen Kräfte realistisch einzuschätzen;nicht nur: mich nicht an falscher Stelle zu verausgaben, sondern auch: nicht zu früh und nicht zu spät ins Tun zu kommen.
Wie das immer so geht? Das ist jedes Mal eine neue Entscheidung, individuell zu treffen. Ich habe kein Patent-Rezept für ein gut gelungenes Leben. Es gibt nicht die drei goldenen Regeln, nicht die fünf allgemeingültigen Zutaten, nach denen der Lebenskuchen sturmfest wird.
Ich weiß nur, dass es leichter wird, dass ich leichter werde, wenn ich nicht immer an allem festhalte. Things change – nichts bleibt wie es ist. Das Leben ist immer lebensgefährlich, und am Ende kommt hier sowieso keineR lebend raus. So what?
Ja, auch ich habe Angst, Fehler zu machen. Habe Angst, das Falsche zu tun oder das Richtige zu früh oder zu spät oder gar nicht.
Fehler passieren, das ist menschlich – und ich habe nicht alles in der Hand. Verabschiede dich von deinen Allmachtsphantasien: Manchmal machst du alles richtig – und dann sieht das Ende trotzdem aus wie eine Katastrophe.
Die Pandemie, der Krieg, der Mord in der Nachbarschaft, der Tod der geliebten Katze, eigene Krankheit(en), Armut und Schwerbehinderung und Verletzungen, Dummheit und Brutalität der Menschen und dann auch noch der Klimawandel und frauenfeindliche politische und gesellschaftliche Veränderungen … lass los.
Vielleicht schaffst du nicht alles auf einmal. Auch okay.
Die Jahresmitte ist ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten und sich auf das vorzubereiten, was kommt. Die Stürme werden nicht weniger, auch wenn eine das gerne so hätte. That’s life.
Zieh dich zurück, zentriere dich, sammel deine Kraft, sortiere die Herausforderungen und setze Prioritäten:
Komm zur Ruhe, überlebe den Sturm – und danach kümmere dich um dein dir Wichtigstes.
Solange die Birke noch steht.